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Krimkrise 2014 – Kosovo und Krim als Spielbälle der Weltpolitik

Die Reaktionen auf die Annexion der Krim im Frühjahr 2014 waren im Westen zu Recht sehr heftig. Im 21. Jahrhundert darf es nicht mehr möglich sein, Grenzen mittels militärischer Macht zu verschieben. Vergessen geht dabei allerdings meist, dass aus Russlands Perspektive etwas ganz ähnliches nur 15 Jahre vorher im Kosovo geschehen war: die NATO hatte damals den unabhängigen Staat Serbien völkerrechtswidrig angegriffen und das Kosovo aus diesem Staat „herausgelöst“, wie Russland nun den unabhängigen Staat Ukraine völkerrechtswidrig angegriffen und die Krim aus diesem Staat „herausgelöst“ hat. Auch im Kosovo wurden Grenzen neu gezogen. Doch ist dieser Vergleich wirklich zulässig?
Kosovo
Die NATO hatte den Angriff auf Serbien/Kosovo 1999 mit humanitären Gründen gerechtfertigt. Die humanitäre Lage hatte sich allerdings gerade im Winter / Frühjahr 1999 deutlich verbessert gehabt – und eskalierte erst nach dem Beginn der NATO-Luftangriffe auf das Kosovo: die gewaltigen Flüchtlingsströme, die vielen noch in Erinnerung sein werden entstanden erst nach den Luftangriffen durch die NATO. Offen bleibt die Frage, ob es auch ohne NATO-Angriff zu einer Vertreibung der Kosovoalbaner gekommen wäre. Zumindest im Frühjahr 1999 deutete kaum etwas darauf hin: der von der deutschen Regierung propagandistisch ausgeschlachtete „Hufeisenplan“, der eine Vertreibung der Kosovoalbaner beweisen sollte hat sich längst als plumpe Fälschung herausgestellt (vgl. dazu »Hufeisenplan).

Dem NATO-Angriff vorangegangen waren Verhandlungen im bei Paris gelegenen Rambouillet. Über diese Verhandlungen »schrieb Henry Kissinger, ehemaliger republikanischer US-Aussenminister: „Der Rambouillet-Text, der Serbien dazu aufrief, den Durchmarsch von NATO-Truppen durch Jugoslawien zu genehmigen, war eine Provokation, eine Entschuldigung dafür, mit den Bombardierungen beginnen zu können. Kein Serbe mit Verstand hätte Rambouillet akzeptieren können. […] Die Serben haben sich vielleicht in der Bekämpfung des KLA- (UÇK-)Terrors, barbarisch verhalten. Jedoch wurden 80 % der Brüche des Waffenstillstandes, zwischen Oktober und Februar [1999], von der KLA begangen. Es war kein Krieg der ethnischen Säuberung zu dieser Zeit. Wenn wir die Lage korrekt analysiert hätten, hätten wir versucht den Waffenstillstand zu unterstützen und nicht die ganze Schuld auf die Serben geschoben.“

Aus russischer Perspektive waren die offiziellen Begründungen für den NATO-Angriff kaum nachvollziehbar. Beim Kosovokonflikt handelte es sich um einen „klassischen“ Bürgerkrieg, bei dem eine Unabhängigkeitsgruppierung (UCK) gegen die Staatsmacht kämpfte. Andernorts wäre die (muslimische) UCK gerade auch von den USA als Terrororganisation bezeichnet und mit Sicherheit nicht mit aktivem Eingreifen eigener Truppen unterstützt worden. Es liegt deshalb nahe, nach alternativen Motiven zu suchen und in der Tat scheint die durch die USA dominierte NATO nicht ganz selbstlos gehandelt zu haben:

  • es konnte ein „unlieb“ gewordener Diktator (Slobodan Milosevic) gestürzt werden – und damit eines der letzten „Relikte“ des Sozialismus in Europa
  • man konnte sich als die „Guten“ darstellen, welche im schrecklichen Jugoslawienkrieg endlich etwas unternehmen und ein zweites „Srebrenica“ verhindern (was besonders der rot-grünen Regierung in Deutschland und dem gerade als Schürzenjäger unter Druck stehenden Bill Clinton gelegen kam)
  • 10 Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer hatte die NATO ihre Existenzberechtigung als Verteidigungsbündnis gegen den nicht mehr existierenden Warschauer Pakt verloren
  • es konnte im Kosovo ein grosses und gerade mit Hinblick auf Russland und den Nahen Osten militärstrategisch fast schon ideal gelegenes amerikanisches Militärlager mitten auf dem Balkan erbaut werden (»Camp Bondsteel)

Insbesondere die Errichtung von Camp Bondsteel fast unmittelbar nach Beendigung des Krieges lässt die Annahme naheliegend erscheinen, dass es den USA weniger um Humanitäres als um militärstrategische Vorteile gegangen ist. So wie es Russland bei der Krim kaum um die dort ansässigen Russen gegangen ist als um – militärstrategische Vorteile.

Ist der Vergleich Kosovo-Krim zulässig?
Der Vergleich mit dem Kosovo mag heikel sein, doch ist er sicherlich nicht „beschämend“ wie ihn Angela Merkel genannt haben soll (z.B. »20 Minuten). Natürlich gibt es wesentliche Unterschiede zwischen den Konflikten. Im Kosovo hatte ein jahrelanger Bürgerkrieg stattgefunden, dem NATO-Eingriff gingen jahrelange diplomatische Gespräche vorher, Kosovo sollte in die Unabhängigkeit entlassen und nicht an einen anderen Staat angegliedert werden. Auf der Krim gab es aber auch im Gegensatz zum Kosovo ein (demokratierechtlich kaum akzeptables) Unabhängigkeitsreferendum, Russland hatte Ukraine bis zum Zeitpunkt der Abspaltung der Krim nicht bombardiert gehabt (der Ostukraine-Konflikt folgte erst darauf), der Annexion der Krim ging der Sturz eines demokratisch gewählten, wenn leider auch keineswegs demokratisch agierenden Politikers (Wiktor Janukowytsch) vorher.

Die weiter oben erwähnten Übereinstimmungen zwischen den Konflikten sind allerdings mindestens ebenso augenfällig. Gleichwohl ist das Betrachten der Unterschiede für ein Verständnis des Krimkonflikts zentral: denn dieses erschliesst sich nur aus der unmittelbaren Vorgeschichte, die mit jener im Kosovo kaum vergleichbar ist.

Krim
In „westlichen“ Medien wird gerne der Eindruck erweckt, dass Russland Ende Februar 2014 völlig grundlos und „aus dem Nichts“ auf der Krim eingefallen sei und einen völlig unbegründeten „Angriffskrieg“ gegen die Ukraine geführt habe. Es habe sich rein aggressiv und quasi aus „Lust“ oder „Hunger“ ein Stück Land einverleibt. Wenn es sich bei der Annexion eines Stück Landes, das zu einem anderen souveränen Staat gehört hat eindeutig um eine Aggression handelt, ist für das Verständnis der Ereignisse auf der Krim aber natürlich die Kenntnisnahme der Vorgeschichte unabdingbar.

Im Herbst 2013 entschied sich der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch, ein Assoziierungsabkommen mit der EU nicht zu unterzeichnen, was sein gutes Recht war. Gegen diese Entscheidung gingen hunderttausende Ukrainerinnen und Ukrainer auf die Strasse („Euromaidan“). Allerdings war zu diesem Zeitpunkt alles andere als klar, ob der Euromaidan eine Mehrheit der Ukrainer vertrat. Denn die Unterstützer des rechtmässig gewählten, wenn auch diktatorisch agierenden ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowytsch leben vor allem in den östlichen und ländlichen Landesgebieten leben, wo kaum Proteste stattfanden.

Der Druck des Euromaidan führte im Februar 2014 dazu, dass der meist russlandfreundliche Janukowytsch gestürzt wurde. Für Russland hatte dieser Sturz gravierende Konsequenzen. Es musste damit rechnen, dass sich die Ukraine von Russland ab und der EU zuwandte. Diese Neuausrichtung der Ukraine, die heute auch tatsächlich stattfindet, bedeutet für Russland wirtschaftliche, insbesondere aber auch militärstrategische Nachteile. Die Ukraine war für Russland aus militärstrategischer Sicht schon im Ersten Weltkrieg von allergrösster Bedeutung und hat diese als „Puffer“ zu Westeuropa bis heute nicht verloren. Mit der Zuwendung zur EU droht Russland hier aber nicht nur eine „Lücke“, sondern Russland muss damit rechnen, dass die Ukraine dereinst der NATO beitreten könnte (was heute auch erklärtes Ziel ist). Damit aber verändert sich für Russland die Lage dramatisch: bis anhin grenzt Russland nur bei den baltischen Staaten Estland und Lettland direkt an die NATO (Finnland, Weissrussland, Ukraine, aber auch Georgien gehören der NATO 2014 nicht an). Der mögliche „Verlust“ der Ukraine und deren möglicher NATO-Beitritt ist für Russland keine Lappalie – zumal sich auf der Halbinsel Krim der Stützpunkt der wichtigen russischen Schwarzmeerflotte befindet. Es handelt sich dabei um den wichtigsten und fast einzigen ganzjährig eisfreien Militärhafen Russlands. Russland hat diesen Stützpunkt (Sewastopol) von der Ukraine gepachtet und mit dem Umsturz in der Ukraine drohte dieser Hafen mittelfristig verloren zu gehen – oder sogar von der NATO übernommen zu werden.
Die Annexion der Krim durch Russland geschah wenige Tage nach dem Sturz Janukowytschs, als die Ukraine keine wirklich handlungsfähige Regierung hatte. Russland hatte die Ukraine offensichtlich „verloren gegeben“ und war zur Ansicht gelangt, dass sich die Ukraine nicht nur kurzfristig von Russland abwenden würde. Deshalb galt es die Krim für Russland zu sichern und somit sicher zu stellen, dass der Flottenstützpunkt Sewastopol auch langfristig unter russischer Kontrolle blieb. Dass es sich dabei um einen aggressiven Akt handelte und Völkerrecht gebrochen wurde, nahm Russland in Kauf, da der erhoffte Nutzen diese Nachteile aus russischer Sicht wohl längst aufhoben.

Fazit
Geht man von der These aus, dass es sich sowohl beim Kosovo- als auch beim Krimkonflikt vor allem um militärstrategische Interventionen handelte, fällt folgendes auf: während die USA ihr Einflussgebiet mit der Unabhängigkeit Kosovos erweitern und ein wichtiges Militärlager (Camp Bondsteel) neu auf dem Balkan errichten konnten, verkleinerte sich der russische Einflussbereich mit dem Krimkonflikt. Während die USA ihren Einfluss auf dem Balkan ausbauen konnten, wurde Russland aus der Ukraine „hinausgedrängt“ und konnte „wenigstens“ den Flottenstützpunkt Sewastopol sichern.

Aus dieser Perspektive betrachtet handelt es sich bei der russischen Aggression gegen die Ukraine also gewissermassen sogar um ein passiveres Vorgehen als beim Vorgehen der NATO im Kosovo. Eine solche Lesart mag zu extrem sein, doch handelt es sich bei der Annexion der Krim um eine aus russischer Sicht durchaus rationale Handlung und insbesondere um eine Reaktion auf eine sich verändernde militärstrategische Lage.

Selbstverständlich gibt es viele Unterschiede zwischen Kosovokonflikt und Krimkrise – was eine historische Banalität ist. Zwei historische Ereignisse sind nie wirklich identisch. Es fällt allerdings auf, dass es im „Westen“ viele Stimmen gibt, die mit besonderer Verve auf die Unvergleichbarkeit der beiden Konflikte hinweisen. Dies könnte so gedeutet werden, dass es eben mehr Gemeinsamkeiten gibt als diesen Stimmen lieb ist. Diese Gemeinsamkeiten sind insbesondere darin zu sehen, dass es bei beiden Konflikten nicht um das eigentliche Stück Land gegangen ist: sowohl Kosovo als auch Krim wurden zu Spielbällen der Weltpolitik zwischen Russland und den durch die USA dominierten NATO. Wer also die letztlich indiskutable Annexion der Krim durch Russland kritisiert, sollte wenigsten so ehrlich sein anzuerkennen, dass das Vorgehen der NATO im Kosovo kaum akzeptabler gewesen ist.

Nachschub – Eine kurze Geschichte der Krim
Nicht ohne Ironie ist, dass die Krim bis 1954 Teil Russlands gewesen ist. Ein Blick auf die Geschichte der Krim zeigt, dass auch dieser Konflikt seine Wurzeln in der Geschichte hat. Die Krim war lange Jahre bis ins 18. Jahrhundert ein Teil des Osmanischen Reichs gewesen. 1783 gelangte die Krim unter russische Herrschaft. Viele „Krim-Tataren“ (ein mit Türken verwandtes Volk) flohen daraufhin von der Halbinsel und die Krim wurde „russifiziert“. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Krim zur autonomen sozialistischen Sowjetrepublik innerhalb der Sowjetunion. Sie war quasi ein Teilstaat (eine Art „autonomer Kanton“) Russlands. Erst 1954, kurz nach dem Tod Stalins, wurde die Krim durch einen Beschluss des ersten Parteisekretärs der KPDSU, Nikita Chruschtschow, an die Ukrainische Sowjetrepublik angegliedert, die theoretisch auf der gleichen Stufe stand wie die Russische Sowjetrepublik. Chruschtschow, der selbst grosse Teile seiner Jugend in der Ukraine verbracht hatte, hatte die Krim also rein verwaltungstechnisch quasi von einem „Kanton“ zu einem anderen „Kanton“ verschoben (wobei, um genau zu sein, es sich bei Russland und der Ukraine um de iure, aber eben nicht de facto unabhängige Staaten handelte).

Die Krim ist also kein integraler Teil der Ukraine, sondern quasi ein „Geschenk“ des ersten Parteisekretärs, das er angeblich im „Suff“ gemacht haben soll. Als sich die Sowjetunion 1991 auflöste wurden aus den bisherigen 15 Sowjetrepubliken 15 unabhängige Staaten, wobei die Grenzen möglichst nicht angetastet wurden. Die Krim wurde demgemäss der Ukraine zugeschlagen – und entschied sich 2014 in einer nicht wirklich demokratischen, aber ohne Zweifel sehr eindeutigen Abstimmung für die Vereinigung mit Russland. Doch auch dessen ungeachtet erscheint das Fazit ebenso eindeutig: die Annexion der Krim war völkerrechtlich illegal, doch keineswegs unbegründet. So wie auch die Herauslösung des Kosovo aus Serbien völkerrechtlich illegal, wenn auch nicht unbegründet gewesen ist.

Literatur zum Thema

  • Vortrag des Historikers Herfried Munkler an der Universität Zürich vom 2. September 2014
  • Vortrag von Prof. Dr. Andrij Portnov am Deutschen Historischen Museum vom 15. Oktober 2014
  • Geissbühler, Simon, Hrsg. 2014. Kiew – Revolution 3.0: Der Euromaidan 2013/14 und die Zukunftsperspektiven der Ukraine. 1. Aufl. ibidem.
  • Jobst, Kerstin S. 2010. Geschichte der Ukraine. Reclam, Philipp, jun. GmbH, Verlag.
  • Kappeler, Andreas. 2000. Kleine Geschichte der Ukraine. 2., aktualisierte Auflage. C.H.Beck.
  • Krone-Schmalz, Gabriele. 2015. Russland verstehen: Der Kampf um die Ukraine und die Arroganz des Westens. 1. Aufl. C.H.Beck.
  • Orzechowski, Peter. 2014. Der Dritte Weltkrieg – Schlachtfeld Europa: Wie die nächste globale Katastrophe unseren Kontinent und damit auch Deutschland treffen wird. 1. Aufl. Kopp Verlag. (Nur als Ideengeber interessant, der Kopp-Verlag sollte in einem seriösen Literaturverzeichnis eigentlich nicht vorkommen…)
  • Schaeffer, Ute. 2015. Ukraine: Reportagen aus einem Land im Aufbruch. 1. Aufl. Wagenbach.
  • Schneider-Deters, Winfried. 2012. Die Ukraine: Machtvakuum zwischen Russland und der Europäischen Union. 1. Aufl. Bwv – Berliner Wissenschafts-Verlag.
  • Scholl-Latour, Peter. 2014. Der Fluch der bösen Tat: Das Scheitern des Westens im Orient. Propyläen Verlag.
  • Scholl-Latour, Peter. 2011. Russland im Zangengriff: Putins Imperium zwischen Nato, China und Islam. Ullstein digital.
  • Strutynski, Peter, Hrsg. 2014. Ein Spiel mit dem Feuer: Die Ukraine, Russland und der Westen. 1. Aufl. Papyrossa. (mit Vorsicht zu geniessen, da recht einseitig)

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