Inhalt: Weltwirtschaftskrise -
Armut
"Binnen kurzem verliert Amerika nun sein Erfolgsgesicht. Im Strassenbild
erscheinen jene, die ins existentielle Nichts gestossen worden sind. Manche
sind zu stolz zum Betteln. Sie säumen die Bürgersteige mit Kistchen
voller Äpfeln, die sie einzeln anbieten und die mancher aus Mitleid
kauft. Andere lernen das Betteln: "Brother, can you spare a dime?" - "Bruder,
hast Du 'nen Groschen übrig?" Und wie Krebsgeschwüre wuchern überall
die Notquartiere, die Hütten aus Kistenbrettern und aus dem Blech alter
Reklameschilder. Denn die Wohnungsvermieter fackeln nicht lange: wer nicht
zahlen kann, fliegt hinaus. So häufig ist diese bittere Erfahrung,.
dass Kinder "Wohnungsräumung" spielen. An den Stadträndern wachsen
die Hütten zu Elendsvierteln zusammen, verpestet vom Gestank der Abwässer.
Im Winter trägt man alles, was an Kleidung noch vorhanden ist, übereinander.
Die Suppenküchen der Kirchen und Wohlfahrtsverbände bewahren die
meisten, aber nicht alle, vor dem Verhungern. Die Armee stellt Gulaschkanonen
bereit. Ein Gastwirt bietet den Arbeitslosen einfache Menüs zu Pfennigpreisen
an. Einige Hausfrauen gründen die "Teil-Dein-Essen"-Initiative und sammeln
Nahrun für die Unglücklicheren. Ein Kleidungshändler stellt
sich an einem eiskalten Tag vor seinen Laden und zieht Dutzenden von Jammergestalten
Wintermäntel über. Die Depression zeigt Amerika also auch von seiner
besten Seite.
Die Katastrophe erstreckt sich tief in das Land hinein. Man hört, dass
Farmer mit geladener Flinte das Schicksal abzuwenden versuchen, von ihren
überschuldeten Höfen verjagt zu werden. Aus Hofbesitzern werden
Wanderarbeiter. 1932 schätzt man die Zahl derer, die auf der Suche nach
Arbeit durch die USA ziehen, auf anderthalb Millionen."
"Weil das Geld so knapp ist, geht die Nahrung allen anderen Notwendigkeiten
vor, also auch dem Kauf von Seife, der Hygiene. Armeleutegeruch durchzieht
das Heim. Nahrung wird für die Kinder aufgespart, auch wenn der eigene
Magen knurrt. Nachmittags kommt der Vater nachhause: wieder keine Arbeit.
Schlimmer noch als die materielle Not ist das Gefühl des Versagens,
der Ausweglosigkeit. Nicht viele Familien können das nervlich so durchhalten,
dass die frühere Harmonie gewahrt bleibt."
überall werden Bretterbuden errichtet
"Die Wirtschaft unternimmt rührende Versuche, die Verbraucher zum Kaufen
anzuregen, damit das darniederliegende Geschäftsleben wieder in Gang
kommt. Die amerikanische Automobilindustrie bringt ganzseitige Anzeigen in
die Presse: "Wenn sie jetzt ein Auto kaufen, dann geben Sie einem Mitbürger
drei Monate Arbeit. Dieser wiederum kann aus seinem Lohn andere Waren kaufen.
Kaufen Sie ein Auto! Helfen Sie, den Wohlstand zurückzugewinnen!"
"Bei der Betrachtung der frühen dreissiger Jahre darf nicht vergessen
werden, dass der grösste Teil der Bevölkerung in den Industrieländern
weiterhin Arbeit hatte. Trotz der Weltwirtschaftskrise war das Bild dieser
Jahre also nicht nur grau in grau. Es wies alle Farben einer Zeit normalen
Lebens auf, wenngleich die Not stets sichtbar blieb."