Eine Diashow des
palästinensischen
Alltags (Toter Link - auf der Site suchen?)
«Ohne euch zu opfern, werdet ihr nie frei sein.»
Acht Stunden für eine Brücke
Reise der Hoffnungslosigkeit
Subhi al-Zobaidi, Ramallah
"Augsburg war eine schöne Stadt. Ich war dort an einem
Filmfestival eingeladen, um meine zwei neuen Filme vorzuführen.
Obwohl nur wenige Leute sie sehen wollten, genoss ich es, in Augsburg
zu sein. In einer Stadt mit öffentlichen Verkehrsmitteln,
Restaurants und Läden. Ich vergnügte mich ohne Ende. In einen
Bus steigen und unbelästigt irgendwo hinfahren zu können,
schmeckte mir beinahe so gut wie die halbe Ente, die ich in einem alten
bayerischen Restaurant ass. Nach fünf Tagen flog ich zurück,
zuerst in die jordanische Hauptstadt Amman, um von dort nach
Palästina
heimzukehren.
Die Fahrt vom Hotel in Amman zu mir nach Hause in Ramallah würde
etwa neunzig Minuten dauern. Doch allein, um die Brücke an der
Grenze
zwischen Jordanien und dem besetzten Palästina zu überqueren,
braucht man normalerweise drei bis vier Stunden. Diesmal waren es acht
Stunden.
Gemeinsam mit anderen jungen Palästinensern musste ich etwa
fünf
Stunden warten, bevor überhaupt ein israelischer Polizist mit mir
sprach.
In dieser Wartezeit tauchte mein Freund Raschid Mascharawi auf,
ebenfalls
ein Filmemacher. Er kam gerade zurück aus Amsterdam, wo er seinen
neuesten Film am Internationalen Dokumentarfilmfestival gezeigt hatte.
Raschid kommt ursprünglich aus Gaza, doch seit 1994 lebt und
arbeitet er in Ramallah. Nach einigen Wartestunden erschienen Soldaten
und beschieden Raschid, dass er nach Jordanien zurückgehen
müsse. Raschid fragte warum. «Sie sind aus Gaza, und sie
müssen nach Gaza gehen. Von hier aus können Sie nicht nach
Gaza reisen.» «Aber ich lebe in Ramallah, nicht in Gaza.
Ich bin verheiratet, und mein Geschäft ist in Ramallah
registriert.»
Doch sie brachten Raschid weg. Dies mit anzusehen, nach fünf
Stunden Warterei, machte mich wütend. Hasserfüllt. Ich
wartete im Passagier-Saal, wo früher die palästinensischen
Polizeioffiziere sassen, um den palästinensischen Reisenden die
Pässe abzunehmen und sie den israelischen Offizieren
weiterzugeben, die sie kontrollierten und dann den
palästinensischen Offizieren zurückgaben, die sie stempelten
und dann den Reisenden zurückgaben. Die Idee dahinter war wohl,
die Zahl der Kontakte zwischen PalästinenserInnen und Israelis am
Grenzübergang zu minimieren. Doch diesmal war keine
palästinensische Polizei da. Ein grosses Foto von Jassir Arafat
hing an der Wand. Das sah so seltsam aus, wie wenn es an irgendetwas
erinnern sollte
- man verband damit eher Abwesendes als Anwesendes. Dort, an diesem
Ort,
zu dieser Zeit, stand das Bild für einen Toten.
Zwei Offiziere brachten mich in den Flügel der Geheimpolizei. Am
Eingang warteten dutzende. Ich hatte Glück. Mein Name wurde
aufgerufen,
und ich ging hinein. Ein Agent sagte mir in fliessendem Arabisch, dass
mich
ein Befehlshaber in Beit El sprechen wolle. (Beit El ist das
Hauptquartier
der israelischen Armee in der Westbank.) Ich schaute die beiden
Offiziere
vor mir an und bat sie, mir zu erklären, wie ich denn nach Beit El
kommen soll, trotz all den Panzern, Schiessereien und Ausgangssperren.
Mein «Schickt mir ein Auto, dann gehe ich» brachte den
Agenten für eine Minute zum Schweigen, dann ging er zum Telefon
und rief jemanden an. Einige Minuten später kehrte er zu mir
zurück und gab mir eine hebräisch geschriebene
Notiz. Ich müsse nach Beit El gehen, wie ich dort hinkomme, sei
mein
Problem.
Ich ging nicht nach Beit El, denn ich weiss, dass ich keine wichtige
Person bin, die ein israelischer Befehlshaber treffen müsste. Ich
bin Filmemacher und Autor. Ich glaube nicht, dass dies genügend
interessant sein könnte. Solche Forderungen sollen uns bloss
beleidigen. Uns zeigen, dass es keine palästinensischen
Behörden mehr gibt und dass die schlechten alten Zeiten der
militärischen Besetzung zurück sind.
Mit der hebräischen Notiz in der Hand ging ich nun zu meinem
Gepäck. Es war bereits kontrolliert worden, doch der
kontrollierende junge Israeli wollte es noch einmal inspizieren. Das
war die Strafe dafür, dass ich protestierte, als ich meine Schuhe
ausziehen musste. Zwei weitere Stunden sass ich da und schaute den
fünf jungen russischen Einwanderern zu, wie sie achtlos, witzelnd
und lachend mein Gepäck durchwühlten.
Schliesslich konnte ich gehen, glücklich, dass noch alle Geschenke
für mein Baby unversehrt waren. Mit einigen anderen kam ich in
Jericho an, von wo aus Sammeltaxis und Busse in alle Richtungen fahren.
Doch wegen des Belagerungszustandes waren da weder Taxis noch Busse.
Mehrere hundert Menschen warteten. Viele ältere Männer und
Frauen waren auf der Rückreise von der Hadsch, der Pilgerfahrt.
Alle fasteten, denn es war Ramadan. Gelegentlich kamen einige
Chauffeure und boten an, auf irgendwelchen Feldwegen zu fahren. Doch
das sei natürlich teurer.
Ich akzeptierte den höheren Preis, bloss, um wegzukommen. Der
Fahrer wollte uns bis zu einem bestimmten Ort bringen (bis dort, wo die
Israelis den Weg abgegraben hatten). Dort würde ein anderes Auto
auf uns warten und uns an unser Ziel bringen. Wir waren zu zehnt: vier
junge Männer, vier alte und zwei Frauen, alle mit viel
Gepäck. Einige waren aus den USA, einige aus Europa und einige aus
Jordanien gekommen. Wir gelangten an den vereinbarten Ort, irgendwo auf
einem kleinen Feldweg. Erpicht, endlich nach Hause zu kommen, schafften
wir vier Männer schnell das Gepäck rüber. Das andere
Auto hatte Verspätung, wohl wegen einer israelischen Armeeeinheit,
die die Strasse überwachte. So mussten wir warten.
Plötzlich erschien ein grosser, weisser Jeep, und vier bewaffnete
Männer stiegen aus. Ohne uns etwas zu fragen, begannen sie uns
anzubrüllen. «Geht zurück, ihr Hunde!»
«Zurück, ihr Huren!» Sie warfen Steine nach uns. Es
war schon später Abend, im Ramadan, und wir waren alle müde.
Die Frauen schrien, sie waren sehr erschrocken; und wir Männer
machten uns daran, das Gepäck zurückzutragen. Wir mussten vor
den Steinen und Flüchen fliehen.
Es war ein schrecklicher Moment meines Lebens. Noch nie erlebte ich
solche Hilflosigkeit und solche Hoffnungslosigkeit. Ein junger Mann
versuchte uns zu trösten. «Wir leben unter Besetzung, wir
sind ein kolonisiertes Volk, und Kolonisatoren verhalten sich so.
Schaut die Geschichte an - schlimmere Dinge geschahen, aber alles fand
ein Ende.» Und einer sagte: «Vertraut Gott, und seid
bereit, euch ihm zu geben. Ohne euch zu opfern, werdet ihr nie frei
sein.»
Ich hörte meinen Mitreisenden zu, doch ich fand darin keinen
Trost. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich wirklich verstehen, warum manche
losgehen und ihre Körper in Bomben verwandeln, um die Besetzer zu
bestrafen für all die Demütigungen und all die Schmerzen, die
sie über das Leben der Menschen bringen."
Aus: Wochenzeitung Nr. 51 und 52 vom 20. Dezember 2001. S. 13f.