Inhalt: Bretton Woods
Artikel (gekürzt) aus
Jahrbuch 2000
ZEIT: Sie gelten seit langem als einer der vehementesten Kritiker der Globalisierung
und ihrer Organisationen. Ihre
Vorwürfe, bitte.
Chomsky: Nehmen wir die Weltbank und den IWF. Die kritisieren sich ja längst
selbst viel heftiger, als ich das tue. Lesen Sie nur die Artikel des Weltbank-Chefökonomen
Joseph Stiglitz ...
ZEIT: ... der unlängst bei der Bank gekündigt hat.
Chomsky: In Wer bewacht die Wüchter beschreibt er nicht nur deren fatale
Wirtschaftspolitik, sondern auch die tödlichen Folgen. Er beschreibt,
wie auf westlichen Druck abstrakte
ökonomische Modelle auf andere Gesellschaften angewendet wurden - mit
brutalen Konsequenzen, die typische »Erste Welt/Dritte Welt«-Geschichte
eben. Das grundlegende Problem ist doch seit langem schon: Die beiden Welten
trennt eine entscheidende Tatsache. Die Dritte Welt wird im Gegensatz zur
Ersten seit dem 18. Jahrhundert zur Liberalisierung gezwungen. Nehmen Sie
beispielsweise Indien und Großbritannien. Im 18. Jahrhundert war Indien
einer der
führenden Produzenten der Welt - unter anderem von Textilien. England
führte damals hohe Zölle ein, um die eigene Textilindustrie vor
dieser Konkurrenz zu schützen. Das Land setzte also auf den starken
Staat und viel Protektion. Indien hingegen wurde zur Liberalisierung gezwungen.
Natürlich ist das nicht der einzige Grund für die erfolgreiche
Industrialisierung der Ersten Welt. Aber in vieler Hinsicht setzte sich dieses
Schema bis zum heutigen Tag fort. Entwickelt
haben sich die Länder, die zu Beginn dem englischen Modell gefolgt sind,
und die, die sich mehr oder weniger dem wirtschaftspolitischen Einfiuss Europas
entziehen konnten. Geschafft haben.es die, die über einen machtvollen
Staat verfügen, die die Freihandelsregeln durch Protektionismus verletzten
und sich fremde Technologien liehen - heute würde man das Produktpiraterie
nennen. Übrigens trifft das alles auch auf das frühe Entwicklungsstadium
der USA zu.
ZEIT: Ihre Interpretation des englischen Modells ist ziemlich ungewöhnlich.
Für die meisten Wirtschaftshistoriker ist England das Modell für
einen Staat, der früher als alle anderen den Freihandel verteidigt hat.
Chomsky: England wurde 1846 zum Freihändler. Damals verfügte das
Land pro Kopf schon über zweimal so viel Kapital wie jeder andere Staat,
es war also bereits enorm machtvoll. Natürlich ist es dann ein Vergnügen,
für freien Wettbewerb zu
werben. Außerdem hatte es ja die Kolonien, die viele Güter abnehmen
mussten. Als das nach 1920 nicht mehr funktionierte, endete schließlich
auch das Empire.
ZEIT: Staatliche Lenkung der Wirtschaft, Protektionismus - das alles klingt
bei Ihnen ungeheuer positiv. Mainstream-Ökonomen würden anders
argumentieren: In den dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts verstärkte
gerade die wechselseitige Abschottung der Staaten die globale Wirtschaftskrise.
Nicht zuletzt um dies künftig zu vermeiden,
hat man schließlich die beiden Bretton-Woods-Institutionen, den IWF
und die Weltbank, geschaffen.
Chomsky: Für die Depression gab es auch andere Gründe, aber lassen
Sie uns über die Motive reden, die zur Gründung des IWF führten.
Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges bestimmten die USA weitgehend, was in
der Welt passierte. Natürlich wollten sie die internationale Ordnung
auch künftig zu ihrem Vorteil organisiert sehen. Damals hatte das Land
einen riesigen Handelsüberschuss, der Krieg hatte die Produktion (die
übrigens stark unter staatlicher Regie stand) ungeheuer angekurbelt.
Nötig war also ein wirtschaftsliberales Umfeld, schon allein um diese
Waren zu verkaufen.
Doch denken Sie aber auch an das politische Umfeld jener Zeit: Überall
gab es nach dem Ende des Krieges radikale und sozialdemokratische Strömungen
- auch in den USA. Das mussten die Schöpfer von Bretton Woods berücksichtigen.
Also
konstruierten sie zwar ein liberales Handelssystem. Gleichzeitig aber ließen
sie den Regierungen den Freiraum, eigene Wirtschafts- und Sozialpolitik zu
machen. Und so entstand der IWF ...
ZEIT: ... der zum Instrument der internationalen Koordination wurde.
Chomsky: Stimmt. Und der feste Wechselkurse und Kapitalverkehrskontrollen
vorsah. Seine Schöpfer White und Keynes begründeten das so: Ohne
Kontrolle des Kapitals sei Demokratie nicht möglich. Kein Land könne
dann eine
Wirtschaftspolitik verfolgen, die den Interessen der Investoren widerspreche.
ZEIT: Viele Ökonomen würden dazu heute sagen: Na, das wäre
doch wunderbar, dann müssen die Regierungen schließlich eine marktfreundliche
Politik machen.
Chomsky: Lassen Sie die Ökonomen reden. Mögen sie die Demokratie
hassen, Bretton Woods jedenfalls sollte sie fördern. Es wollte die Souveränität
des Volker schützen, wirtschaftspolitische Planung ermöglichen
und durch feste
Wechselkurse die Spekulation verhindern. Dieses System brach jedoch in den
siebziger Jahren zusammen. Die Wechselkurse wurden flexibel, Kapitalverkehrskontrollen
aufgegeben, und die so genannte Globalisierung begann. Seither wächst
der kurzfristige Kapitalverkehr, und das ist extrem schädlich. Seit
Beginn der Liberalisierung haben sich die meisten Wirtschaftsdaten verschlechtert:
In den Industrieländern ist das Wirtschaftswachstum um die Hälfte
gesunken. Und in den
Entwicklungsländern ist die Situation schlechter als in den siebziger
Jahren.
ZEIT: Dennoch gilt das Land, das beim IWF am meisten auf den freien Verkehr
von Kapital drängt, heute als das Modell für viele andere Volkswirtschaften.
Die USA können Wirtschaftsdaten vorweisen, bei denen andere nur staunen.
Chomsky: Die USA sind in Wahrheit ein Desaster. Nehmen Sie nur das Wirtschaftswachstum.
Es macht nur Sinn, wenn sie es pro Kopf umrechnen - und dann ist es aufgrund
des
Bevölkerungswachstums seit den siebziger Jahren in Wirklichkeit kaum
größer geworden. Außerdem wachsen die Löhne und Gehälter
nicht mit. Die Arbeitszeiten sind hingegen immer länger geworden, sie
sind heute länger als in jedem anderen Industrieland. Zudem ist der
Reichtum ungleicher verteilt denn je.
ZElT: Wie erklären Sie denn dann, dass alle Welt trotzdem an das Modell
Amerika glaubt - und per IWF die weltweite Verbreitung fördert?
CHOMSlCY: Es ist ein Modell für die Privilegierten und Reichen; die
wollen es. Gestern hatte ich zum Beispiel Studenten aus Ghana zu Besuch.
Die haben ganz gut verstanden, warum sie hier zur Universität gehen.
Sie sollen amerikanische Ideen aufsaugen und ihr Land dann entsprechend lenken.
Damit werden sie dann automatisch zur Elite gehören - selbst wenn dort
auf dem Land die Armut zunimmt. Ähnlich hat das Großbritannien
mit der indischen Elite Jahrzehnte lang
gemacht. Und wie ist es denn in Deutschland: Für die gut ausgebildeten
Eliten ist das amerikanische Modell dort doch wunderbar.- Für mich übrigens
auch, ich habe bestimmt in den vergangenen zwei Jahrzehnten ordentlich gewonnen.
ZEIT: In den USA sind nicht nur die Reichen, sondern die meisten Bürger
ganz zufrieden mit dem Status quo.
Chomsky: Sind sie es? Warum dann die Demonstrationen?
F ZEIT: Das sind ein paar zehntausend.
Chomsky: Die anderen arbeiten ja auch so hart, dass sie
bestenfalls jammern können. Viele haben geringere Erwartungen als früher.
Sie beantworten die Frage, ob es ihren Kindern besser gehen wird, nicht mehr
automatisch mit ja.
Und dann müssen Sie auch die enorme Propaganda berücksichtigen.
Von klein auf sagt uns die Werbung, wie wir sein müssen und dass unser
größter Wunsch ein Paar Turnschuhe sei.
ZEIT: Wenn ich Sie zitieren darf, Sie sagen gerne: »Die USA sind das
freieste Land der Welt.« Das bedeutet doch auch,
dass gerade hier jeder alles wissen und sagen darf. Ist da nicht das Argument,
die Propaganda verblöde das Volk, ziemlich kurz gegriffen?
Chomsky: Natürlich kann jeder jede Information bekommen. So wie jeder
Ökonom eigentlich herausfinden kann, warum es der Dritten Welt so schlecht
und der Ersten so gut geht. Aber die meisten Leute haben nicht gelernt, wie.
Mach ihrem langen Arbeitstag bleibt ihnen gerade noch die Energie, sich vor
den Fernseher zu setzen oder in die Bar zu gehen.
ZEIT: Wo kommen dann die Demonstranten dieser Woche her?
Chomsky: Ein paar soziale Institutionen haben auch in den USA überlebt,
allen voran die Kirchen. Da gibt es zwar viel radikalen Fundamentalismus
und Ignoranz, aber auch viele Aktivisten - wie beispielsweise die Solidaritätsbewegung
für Zentralamerika.
ZEIT: Dort bildet sich das Potenzial für eine Neue Linke!
Chomsky: Was ist heute noch links? Es gibt fundamentalistische Christen,
die heute viel linker sind als
alles, was ich bisher gekannt habe. Die sind in Dörfer nach El Salvador
gezogen - in der Hoffnung, dass ein weißes Gesicht die von uns finanzierten
Todesschwadronen abschreckt. Niemand aus den Reihen der Linken hat sich dort
so wie diese Christen um die Armen gekümmert. Rechts und links - diese
Worte haben keine Bedeutung mehr. Eine neue Linke? Wahrscheinlich gehört
heute der Großteil der Bevölkerung dazu. Denn die Mehrheit glaubt,
dass Unternehmen zu viel Macht haben. Und als Bürger zum zweihundertsten
Geburtstag der Verfassung gebeten wurden, auf einem Fragebogen deren Sätze
anzukreuzen, war einer der populärsten: »Jeder nach seiner Fähigkeit,
jedem nach seinem Bedürfnis.« Damit wäre dieses Land also
mehrheitlich marxistisch.
ZEIT: Zurück zum IWF. Welche Reformen würden Sie denn für
ausreichend halten, wann könnten auch die Protestierenden zufrieden
nach Hause gehen?
Chomsky: Da muss sich jede Menge verändern. Eines aber ist
ganz sicher: Solange Länder die Kapitalströme nicht kontrollieren
können, hat die Demokratie nur eine sehr begrenzte Chance, und der Spielraum
für die Wirtschaftspolitik wird sehr beschränkt bleiben.
ZEIT: Und Sie glauben, dass die Demonstranten dies ändern können?
Chomsky: In der Geschichte hat sich alles Mögliche immer wieder verändert.
Nur die Reichen haben immer wieder behauptet, das Ende der Geschichte sei
erreicht.
Das Gespräch führte Petra Pinzler