Inhalt: Relevanz der Französischen
Revolution
Text aus Geschichtsbuch 3
"Tatsächlich war das Zeitalter von 1789 bis 1848 ein tieferer Einschnitt
in der europäischen Geschichte, als es selbst die Zeit der Entdeckungen
und der Reformation gewesen war. Während dieser Zeit endete auf dem
Kontinent (mit Ausnahme von Russland und der Türkei) die politische
und gesellschaftliche Vorherrschaft des Adels. Die Grundherrschaft wurde
beseitigt, die Landbewohner wurden frei, Grund und Boden konnten wie jedes
andere Wirtschaftsgut gekauft und verkauft werden. Die Zunftbeschränkungen
in den Städten fielen, an ihre Stelle trat die Gewerbefreiheit. Alles
zusammen bedeutete das Ende der ständischen Gesellschaft und den Durchbruch
des Bürgertums. Aber dieser Prozess verlief nicht gradlinig und gleichmässig,
es gab dabei auch viele Rückschläge und Enttäuschungen - besonders
in Deutschland."
Text aus Egon Friedell. Kulturgeschichte der Neuzeit. Band 2. S. 843f.
"Wenn von der Französischen Revolution gesprochen wird, so kann man
zumeist hören, ihre grosse historische Bedeutung habe darin bestanden,
dass sie die Befreiung Frankreichs und die Befreiung Europas bewirkte, indem
sie die Gesellschaft von der Herrschaft des Absolutismus, der Kirche und
der privilegierten Stände erlöste; von der Proklamation der "Menschenrechte"
datiere die Ära der geistigen Unabhängigkeit, der bürgerlichen
Selbstgesetzgebung, des ungebundenen wirtschaftlichen Wettbewerbs. So richtig
es nun zweifellos ist, dass gewisse Emanzipationsbewegungen von der Pariser
Revolution ausgelöst wurden, so ist doch die Ansicht, dass der Konstitutionalismus,
der Liberalismus, der Sozialismus und alle ähnlichen politischen Strömungen
des neunzehnten Jahrhunderts aus dieser einen Quelle entsprungen seien, in
dieser schroffen Form vorgebracht, falsch und irreführend. Die Revolution
hat den entscheidenden Sieg des Bürgertums bewirkt; aber nur am Anfang:
später bewirkte sie den entscheidenden Sieg des Pöbels. Die Revolution
hat den Absolutismus gestürzt; aber nicht für lange. ...
Die Freiheit hat die Französische Revolution nicht gebracht; sie übte
dieselbe engherzige, grausame und selbstsüchtige Geisteszensur wie das
ancien régime, nur diesmal im Namen der Freiheit und mit viel drakonischeren
Mitteln. Sie fragte jedermann: bist du für die Freiheit?, und wenn er
nicht eine ganz unzweideutige Auskunft gab, so antwortete sei nicht mehr mit
lettres de cachet, sondern mit der Guillotine. ...
Von ihren drei Leitvokabeln: fraternité, liberté und égalité
war die erste eine leere Opernphrase, mit der sich in der politischen Praxis
nicht das geringste anfangen lässt: und die beiden anderen sind unvereinbare
Gegensätze. Denn die Gleichheit vernichtet die Freiheit und die Freiheit
vernichtet die Gleichheit. Wenn alle Menschen als identisch angesehen und
infolgedessen denselben Rechten, Pflichten und Lebensformen unterworfen werden,
so sind sie nicht mehr frei; und wenn alle sich ungehemmt nach ihren verschiedenen
Individualitäten entfalten dürfen, so sind sie nicht mehr gleich.
...
Gleichwohl bleibt der Französischen Revolution das grosse Verdienst,
die Verbindung zwischen Staatsgewalt und Untertan, Regierung und Regierten
sozusagen labiler gemacht zu haben. Die Vereinigung der beiden Partner, äusserlich
noch dieselbe, ist durch sie viel lockerer geworden, viel leichter geneigt
zu zerfallen; es genügte seitdem oft ein geringer Anstoss, um eine allgemeine
Dissoziation hervorzurufen."